Was bleibt übrig vom Student für Europa – Student für Berlin?
Die wechselnden erkenntnisleitenden Ideen in der Geschichte des Vereins waren
- Kindern aus benachteiligten Familien aus dem eingeschlossenen Berlin ein unvergessliches Ferienerlebnis im freien Westen zu bieten (vorherrschende Idee seit der Vereinsgründung bis Mitte 60er Jahre)
- Aufbrechen der traditionellen Erziehungsmethoden in der Freizeitpädagogik als Gegenentwurf zu tradierten, an Autorität orientierten Leitbildern, die von den in der Nazizeit sozialisierten Erziehern vielfach unkritisch übernommen wurden. Schlagworte u.a.: Sexualerziehung / emanzipatorische Erziehung zu selbstbestimmtem Handeln / Lösung von überkommenen Rollenmustern und Stärkung von Frauenrechten
- Ausweitung nach Europa: Aussöhnung mit dem „Erbfeind“ Frankreich / Annäherung an andere Kulturen / internationales Verständnis und Mehrsprachigkeit / Abbau von nationalen Stereotypien (ungefähr Mitte der 60er bis Anfang der 70er Jahre)
- Die Erkenntnisse aus dem gesellschaftlichen Umbruch in den Hochschulen in die breite Bevölkerung zu tragen und dabei das Erziehungssystem als wichtiges Instrument der Veränderung zu erkennen („Der Marsch durch die Institutionen“ – „Das Private ist politisch“, ab Ende der 60er bis Mitte der 70er Jahre).
- Ein bunter Strauß aus Ideen der neuen sozialen Bewegungen, u.a. Anti-Atomkraft / neue Spiritualität / Umwelt / Frauenbewegung / alternative Bildungsstätten / alternative Arbeit / Dritte Welt- und Friedensbewegung … bis zur Auflösung des Vereins 1981/82
Wie kann man rückblickend diese Ideen, ihre Verwirklichung und ihr teilweises Scheitern bewerten? Unter der Fragestellung „Aufbruch oder ‚kollektiver Traum‘“ verweist Ingrid Gilcher-Holtey (Die 68er Bewegung. C.H.Beck, München 2001, S.111) bei ihrer Analyse der 68er Bewegung darauf, dass soziale Bewegungen grundsätzlich drei generelle Eigenschaften und Entwicklungen aufwiesen:
„Erstens: Soziale Bewegungen sind ein fluides soziales Phänomen. Sie können nicht dauerhaft in Bewegung bleiben, sondern zerfallen nach einer Phase der Mobilisierung. Sie werden überführt in Organisationen mit spezifischen Aufgaben oder aufgesogen von bestehenden politischen Parteien. In beiden Fällen zeigen sich die „Folgen“ nur in der Übernahme von ausgewählten und dabei veränderten Impulsen aus der Wert- und Zielorientierung der ursprünglichen Bewegung. Überschreiten soziale Bewegungen die Organisationsschwelle nicht, zerfallen sie in vernetzte Kleingruppen, subkulturelle Stile der Lebensführung oder generationsspezifische Erinnerungsgemeinschaften. […]“
Die Eigenschaft eines „fluiden sozialen Phänomens“ lässt sich in besonderer Weise für den SfE-SfB belegen. Nach einer jeweils starken Phase der Mobilisierung sowohl bezüglich des nationalen Berliner Programms als auch mit seiner Programmatik des europäischen Aufbruchs zerfiel die Bewegung. Viele der Ursachen wurden hier beschrieben. Zwar erreichte der Verein für einige Zeit eine professionelle Organisationsform, aber er scheiterte an seinen inneren Widersprüchen:
- einerseits der Idee, etablierte Erziehungsideale in seinen Ferienaufenthalten durch einen gesellschaftlichen Gegenentwurf teilweise subversiv zu unterlaufen und damit die vorherrschende Ausrichtung der meisten professionell ausgerichteten Wohlfahrtsverbände infrage zu stellen,
- andererseits dem Anspruch, mit dem „plötzlichen Reichtum“ durch den materiellen Erfolg der Liederbücher das Modell eines studentischen und von Überzeugungen getragenen Aufbruchs in eine Form zu überführen, die den etablierten Verbänden immer ähnlicher wurde. Herausragendes Beispiel dafür war der Kauf eines eigenen Ferienheimes.
Hinzu kamen vernetzte Kleingruppen an den unterschiedlichen Hochschulstandorten, die ihre eigenen, oft kontroversen gesellschaftlichen Perspektiven in den Betreuerrichtlinien verankert sehen wollten und keine tragfähige Gesamtkonzeption mehr zustande brachten, auf die sich alle einigen konnten und die auch von den Entsendestellen noch akzeptiert wurden.
Zweitens: Soziale Bewegungen definieren neue „issues“ und führen diese in die öffentliche Debatte ein. Sie artikulieren und vermitteln gesellschaftliche Widersprüche, bedürfen aber, um wirksam zu werden, weiterer Vermittlung durch andere politische Akteure (z. B. Parteien, Verbände). Daraus folgt: Soziale Bewegungen können aus sich heraus den von ihnen erstrebten Wandel grundlegender Strukturen nur selten realisieren. Die Bestimmung des Einflusses sozialer Bewegungen auf politische, soziale und kulturelle Entwicklungen entzieht sich daher einer direkten Zuschreibung.
Die ursprünglich auf Erholung, Spaß und Abenteuer ausgerichtete Konzeption war auf breite Akzeptanz und großes Wohlwollen bei den Berliner Entsendstellen und vielen anderen Verbänden gestoßen, die mit dem SfE-SfB zusammenarbeiteten. Die Anreicherung mit neuen „issues“, z.B. einer stärker auf gesellschaftliche Widersprüche und sexuelle Aufklärung ausgerichteten Zielsetzung, wurde sowohl von den Verbänden wie den Eltern kritisch gesehen. Andererseits trugen diese issues dazu bei, die öffentliche Debatte um eine andersgeartete Freizeitpädagogik zu erweitern und – parallel zur Studentenbewegung – Veränderungen auch bei den anderen Wohlfahrtsverbänden herbeizuführen.
Drittens: Soziale Bewegungen konkurrieren stets mit anderen Faktoren sozialen Wandels (z.B. immanenten Entwicklungstendenzen, gegenläufigen Interessen, Verfügungschancen über politischen Einfluß), so daß sich ihr eigenständiger Beitrag nur schwer isolieren läßt.“
Wie bei allen anderen sozialen Bewegungen gab es gleichlaufende Entwicklungen in vielen Bereichen, wofür die gesellschaftlichen Umbrüche während der Studentenbewegung ebenso wie die politische Annäherung zwischen Frankreich und Deutschland beredte Beispiele sind. Diese Erkenntnis gilt in gleicher Weise für den SfE-SfB, weil sich dessen originärer Beitrag nur schwer isolierenlässt. Wenn man jedoch auf die große Zahl der beteiligten Studenten und den Einfluss ihrer Teilhabe an den Diskursen im Verein auf deren eigene Berufs- und Lebenswirklichkeit sowie ihre spätere Funktion als Multiplikatoren (häufig im Bildungssystem) schaut, ist unschwer zu erkennen, dass hier ein wesentlicher Beitrag zur Veränderung ehemals vorherrschender Erziehungsprinzipien geleistet wurde.
Weiterhin lässt sich dieser Einfluss an folgenden Indikatoren nachweisen

- der durchgängigen Unterstützung der Senatsverwaltung für Familie, Jugend und Sport Berlin bei der Weiterentwicklung der programmatischen Basis des Vereins,
- der vielfach geäußerten Wertschätzung der Betreuerrichtlinien und ihrer Nutzung in anderen Verbänden,
- der weiten Verbreitung der Liederbücher,
- den hohen Auflagen des Buches des ehemaligen Vorsitzenden Sven Hölzel, mit der die neue Perspektive von „Freizeitpädagogik zwischen Gleichgültigkeit und Zwang: Ein Grundriß zur Theorie und Praxis“ (4. Aufl. 1991, Neuwied; Frankfurt/M.: Luchterhand) ihren Eingang in die Konzeption auch anderer Verbände und die Ausbildung an Schulen und Hochschulen fand.
Auch in diesen Fällen zeigen sich die „Folgen“ in der Übernahme von ausgewählten und dabei veränderten Impulsen aus der Wert- und Zielorientierung der ursprünglichen Bewegung des Vereins Student für Europa – Student für Berlin.