Pädagogisches Ziel der Anfangsjahre: Erholung, Spaß und Abenteuer
Die Gründer des Vereins Student für Berlin hatten den Anspruch, sich Kindern aus besonders benachteiligten Familien zu widmen, die aus ihrer Sicht von den großen an Verschickungsaktionen beteiligten Institutionen eher vernachlässigt worden waren. Es waren Kinder im Alter von anfangs acht bis zwölf Jahren in ärmsten Verhältnissen, mit Mangelernährung, Gesundheitsstörungen, wirtschaftlicher Not und Verzicht konfrontiert, die von einigen Organisationen als nicht erziehungsfähig angesehen wurden und für die Gemeinschaft als nicht tragbar galten. Der Aufruf des Bundespräsidenten – Auslöser für die Gründung des SfB – war ja in den Nachkriegsjahren erfolgt, die insbesondere in West-Berlin gekennzeichnet waren von einerseits großer öffentlicher und privater Armut, andererseits von einer immer noch durch die Nazizeit geprägten Geisteshaltung in vielen Institutionen und Organisationen. Die Qualität und der Erfolg von Ferienlagern und Verschickungen durch die großen Wohlfahrtsverbände wurde daher weitgehend an der politisch unverfänglichen Gewichtszunahme der Kinder gemessen, angesichts der Mangelernährung ein zweifellos wichtiger Aspekt. Auch beim SfB wurden die Kinder gemäß dieser Erfolgsmaxime zu Beginn und Ende eines Aufenthaltes gewogen und die Gewichtszunahme (!) dokumentiert.

Dieses Gewichtsprogramm als Kriterium war für die Gründer des SfB eine zwar notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung für den Erfolg eines Aufenthaltes. Die ersten Ferienlager wurden mit dem Wunsch durchgeführt, diesen Kindern ein Kontrastprogramm, einen möglichst unbeschwerten, unvergesslichen Erholungsurlaub in schöner Landschaft mit viel Spaß und Freude zu bieten. In Abgrenzung zu herkömmlichen Verschickungsaktionen durch überwiegend älteres, meist weibliches Betreuungspersonal mit überlieferten, autoritären Regeln, Standardroutinen (bis hin zur “schwarzen Pädagogik”, wie spätere Untersuchungen zeigten) und wenig abwechslungsreichen Tagesabläufen brachten junge Studentinnen und Studenten mit Idealismus und unverbrauchtem Elan gänzlich neue Vorstellungen ein. Zentral waren die „Drei großen E’s: Erlebnis – Erholung – Erziehung“. Nicht weit entfernt von der eigenen Kindheit gestalteten sie Ferienprogramme als eine Mischung aus notwendigen Regeln und Abenteuerurlaub, die eines nicht zuließen: das Aufkommen von Langeweile.
Besondere Elemente waren:
- „Das große Spiel“: Ein Spielmotto zieht sich als roter Faden durch einen Teil der Freizeit. Aus vom Betreuerteam vorgeschlagenen Themen, die sich darauf vorbereitet und Materialien organisiert haben, wählen Kinder eines aus, es entstehen kleine Gruppen, die Ideen und ein Zugehörigkeitsgefühl untereinander entwickeln, um gestellte Aufgaben gemeinsam zu verwirklichen.
Beispiele: Gruppen kleiner Piraten oder Stammesangehöriger, die miteinander Abenteuer bestehen, Lagerzirkus / Theatergruppe mit Aufführungen, Reportergruppen, die für die Lagerzeitung recherchieren und schreiben oder ein Hörspiel auf Tonband erstellen… - Wechselnde spannende Einzelaktivitäten für innen und außen, je nach Wetter, Hobbygruppen, gemeinsame Vorbereitung von Lagerfesten u.a.
- Erkundung der Umgebung der Ferienheime mit Besuchen z.B. bei Landwirten und Handwerkern, oder Fischern an der See
- Spielerische Verteilung kleinerer Pflichten, um die Selbst- und Mitverantwortung zu fördern
- Ausgewogener Tagesablauf mit Aktivitäts- und Ruhephasen, letztere in Form von längeren Mittagspausen mit leiser – auch klassischer – Musik.
- Regelmäßige Gespräche/Vollversammlungen, in denen Kinder Kritik und eigene Vorschläge einbringen und Mitbestimmung üben können.
Im besten Fall wurde ein ganzer Aufenthalt zu einem großen Spiel. Überlieferte Briefe und Zeitungsartikel zeugen von überwiegend großer Begeisterung seitens der Kinder und ihrem Wunsch, bald wieder „mit den Studenten“ Ferien machen zu dürfen. Die Gründer hatten zwar einen durchaus kritischen Blick auf die vorherrschende Sozialpolitik und die institutionellen Bedingungen, bezeichneten ihr Engagement aber als rein karitativ und gänzlich unpolitisch.

Einige Zahlen zu 1964:
ca. 5.600 Kinder und 812 internationale Studenten und Studentinnen nehmen teil an 163 Aufenthalten in Deutschland; insgesamt 1.100 Kinder waren in Auslandsaufenthalten:
1 x Finnland, 1 x Holland, 1 x Italien, 3 x Österreich, 5 x Frankreich. 604 Kinder im deutsch-französischen Programm in 12 Heimen auf beiden Seiten.
22 Schulungslager fanden statt, davon je eines in Österreich und Frankreich.
In den USA mit Sitz Washington D.C. gründet sich eine Zentrale des SfE-SfB mit 5 Arbeitsgemeinschaften an 5 Hochschulorten, die Geldspenden für Berliner Kinder einwerben.
Gesamtkosten der Aktion: 1,2 Millionen DM. Hauptlast trägt das Hilfswerk Berlin; Berliner Senat und das Deutsch-Französische Jugendwerk beteiligen sich mit ansehnlichen Beträgen. Der eingebrachte Anteil des Vereins beträgt eine knappe Viertelmillion DM.
1.500 Kinder aus Städten in Westdeutschland sind dabei, angeworben von Studenten in Arbeitsgemeinschaften vor Ort.
In diesem Jahr wird das Projekt "Dorfgemeinschaft" erprobt: Unterbringung der Kinder in Familien, teils auf Bauernhöfen, um auch Kontakte zur Bevölkerung zu fördern. Die Betreuer wohnen in eigener Unterkunft und gestalten tagsüber die Freizeitbetreuung, die Familien sorgen für Kost und Logis der Kinder.
Der Verein „Student für Europa“ professionalisiert sich
Die Aufbaujahre waren vorbei, der Verein ist groß geworden. Es wurden fast schon professionell Spenden eingeworben (siehe die Broschüre zur Selbstdarstellung von 1965), der finanzielle Umfang einer Ferienaktion betrug inzwischen hunderttausende Deutsche Mark. Doch in der Organisationsstruktur des SfE Mitte der 60er Jahre spiegelte sich noch immer die idealistische Grundstruktur der Gründer. Alles geschah ehrenamtlich, teilweise mit erheblicher Selbstausbeutung. Die „Zentrale“ war stets noch im Wohnzimmer des jeweiligen Vorsitzenden untergebracht, bei den jährlichen Wechseln musste ein immer größer werdender Aktenbestand aufwendig von einem Ort zum anderen transportiert werden.

Ein fester Ort musste her, 1967 war es so weit: Arbeitsgruppen im Raum Main/Taunus entschieden sich für ein altes bezahlbares Haus zur befristeten Miete in der Kronberger Straße 5, Bad Soden im Taunus. Auf einem Grundstück mit altem Baumbestand stand ein mehrgeschossiges Fachwerkhaus, das mittelfristig abgerissen werden sollte. Hier in der „Zentrale“ teilten sich Vorstandsmitglieder und ehrenamtliche Helfer aus umliegenden AGen Büroräume. Gleichzeitig bot das Haus Platz für Versammlungen sowie Schlafgelegenheiten für Mitglieder, die aus entfernten Orten anreisten.
Mit der großen Zahl der betreuten Kinder und Jugendlichen, der Organisierung der dazu benötigten Betreuern und dem damit verbundenen Arbeitsaufwand kamen die anfangs ausschließlich Ehrenamtlichen an die Grenzen ihrer Belastungsfähigkeit. Ab dem Herbst 1968 wurden ein hauptamtlicher Geschäftsführer und eine Halbtagssekretärin eingestellt.


Der Mietvertrag für das Haus in der Kronberger Straße war befristet, aber in der näheren Umgebung fand sich eine Alternative: 1969 konnte mit Unterstützung aus dem Bundesjugendplan (damaliger Name, heute „Kinder- und Jugendplan des Bundes“ (KJP) ) ein Grundstück in der Bad Sodener Dachbergstraße 19 erworben werden, auf dem zwei Gebäude standen, die dem gewachsenen Platzbedarf entgegenkamen: Im kleineren Hinterhaus waren Büroräume für Geschäftsführung und Vorstand untergebracht, das größere Vorderhaus mit Tagungs-/Essraum, Aufenthaltsraum, Küche, Bad, Schlafräumen und zwei Büroräumen, genutzt von Vorstandsreferenten, überregionalen Mitgliedern und der Heimkoordination.
Später kamen Zivildienstleistende dazu, die Hausmeistertätigkeiten übernahmen und im Keller die vielfältig benötigten Papiere auf einer Offset-Maschine im Selbstdruck herstellten. Hier entstanden die ersten Betreuerrichtlinien und später auch die Liederbücher. Als diese ab den 70er Jahren wegen steigender Nachfrage auswärts gedruckt wurden, wurden die Hefte im Haus gelagert und von hier versandt.
Ferner diente die Zentrale benachbarten Arbeitsgemeinschaften als Tagungsort für Wochenendseminare. So kam auch bald eine Köchin auf Teilzeitbasis hinzu. Während der Ferienaktionen in den Sommermonaten hielt sich in der Zentrale der Notdienst auf: Vereinsmitarbeiter und -mitarbeiterinnen aus verschiedenen Arbeitsgemeinschaften, die rund um die Uhr als Ansprechpartner zur Verfügung standen für Betreuerteams, Heimleitungen, Berliner Kontaktpersonen, und notfalls kurzfristig in die Aufenthaltsorte fuhren, um bei Problemlösungen behilflich zu sein. An diesem Ort residierte der “Student für Europa – Student für Berlin e.V.” bis zu seiner Insolvenz im Jahre 1982.



Neue inhaltliche Schwerpunktsetzungen ab 1965 – Selbstbestimmtes und verantwortungsbewusstes Handeln als vordringliches Erziehungsziel
Durch Beschluss der Mitgliederversammlung änderte der Verein im Oktober 1965 seinen Namen von „Student für Berlin e.V.“ in „Student für Europa – Student für Berlin e.V.“ (SfE). Damit wurde auch formal vollzogen, was sich seit 1963 schon abzeichnete: Zu einem neuen Schwerpunkt wurden Aufenthalte mit Kindern aus zwei (später auch drei oder sogar vier) Nationen. Einzelheiten hierzu sind im Europa-Kapitel zu lesen.
Ausgehend von einer karitativen Orientierung als Hilfe für Kinder aus benachteiligten Familien der eingeschlossenen Stadt Berlin entwickelte sich die Programmatik des SfE zu einer eigenständigen und anspruchsvollen Konzeption von Freizeitpädagogik, die vielfach mit den überkommenen Traditionen der meisten kirchlichen und freien Wohlfahrtsverbände in Widerspruch geriet. In diesen im Vergleich zum SfE finanziell gut ausgestatteten professionellen Organisationen vertraute man bis auf wenige Ausnahmen auf überkommene Leitbilder und „bewährte Erfahrungen“ in der Kinder- und Jugendarbeit.
Demgegenüber war ein von Studenten entwickeltes Betreuungskonzept jeweils eingebettet in die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen. Die Studentenbewegung zum Ende der 1960er Jahre entfachte eine bis dahin im Nachkriegs-Deutschland nicht gekannte Dynamik. Es wurden nicht nur die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse, sondern auch zentrale Erziehungsprinzipien in Familie und Bildung infrage gestellt, die weitgehend auf den Grundsätzen von Autorität, Macht und Disziplin aufbauten.

Mit dem bereits 1959 in England erschienenen und dann millionenfach aufgelegten Buch von A.S. Neill zur „Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung“ (so der Titel) wurde ein oft als utopisch angesehener Gegenentwurf entfaltet. Dieses Buch entwickelte sich fast zu einer „Bibel“ aller, die die herkömmliche Erziehung kritisierten und diese verändern wollten. Im Vorwort zu diesem Buch würdigt Erich Fromm die praktische Realisation dieses Konzeptes in der Summerhill-Schule unter der Leitung von Neill, zeigt aber auch auf, worin die Begrenzungen für eine allgemeine Umsetzung liegen (Neill, A.S., 1969: Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung. Das Beispiel Summerhill).
In diesem Spannungsfeld des Aufbegehrens gegen traditionelle Erziehungsnormen, unter denen die meisten Studierenden selbst noch groß geworden waren, und utopischen Leitbildern einer antiautoritären Erziehung wurden von Jahr zu Jahr die Betreuer-Richtlinien des SfE weiterentwickelt, oft in tage- und nächtelangen Diskussionen. Die Zielsetzungen und die Gestaltung der Ferienlager veränderten sich. In § 2 Abs. 2 der geänderten Satzung aus dem Jahr 1969 heißt es folgerichtig: „Der Verein fördert und unternimmt innerhalb und außerhalb der eigenen Reihen Aktivitäten, die sich mit den bildungs- und gesellschaftspolitischen Verhältnissen beschäftigen, die der Erziehung der Kinder und Jugendlichen dienen sollen.“
Nicht mehr eine Auszeit und Erholung von Mangelernährung und begrenzten Wohnverhältnissen allein, wie noch in der Gründungsphase, standen im Vordergrund der Ferienlager. An ihre Stelle trat die Überzeugung, das Kindeswohl in den Ferienaufenthalten durch solche Erfahrungen am besten zu fördern, die die Heranwachsenden aus familiären und gesellschaftlichen Zwängen befreiten und sie zu selbstbestimmtem und verantwortungsbewusstem Handeln befähigten. Die Widersprüche, die sich daraus nach der Rückkehr aus den Ferienlagern in den Familien ergaben, wurden nicht gesehen oder aber als Begleiterscheinung gesellschaftlichen Wandels als unvermeidbar erachtet.
Neue Anforderungen an die pädagogischen Konzepte
Pädagogische Ausrichtungen und Ziele des Vereins unterlagen im Lauf der Jahre kontinuierlichen Veränderungen. Auswertetagungen (AWT), die nach den abgeschlossenen Ferienaktionen im Herbst stattfanden, machten neue Problemstellungen und Veränderungen bei Kindern und Betreuern sichtbar. Sie wurden eingehend diskutiert, einige Ergebnisse in den Betreuerrichtlinien berücksichtigt. Auch neue Altersgruppen und Lebenssituationen der Kinder, die inzwischen bis 15 Jahre alt waren und nicht mehr nur aus unterprivilegierten Familien kamen, erforderten ein Umdenken.
Betreuer der Studentengeneration gegen Ende der 60er Jahre, als an nahezu allen Hochschulen in Seminaren und politischen Gruppen kritische Auseinandersetzungen mit Lehrstoffen und gesellschaftlichen Verhältnissen stattfanden, stellten bisherige pädagogische und freizeitpädagogische Konzepte auf den Prüfstand. Die Frage, wie weit ein Verein, der sich lange als unpolitisch und neutral verstehen wollte, sich auf die neuen Herausforderungen einlassen konnte und musste, schlug hohe Wellen. Insbesondere die älteren Mitglieder, die seit vielen Jahren zeitweise bis an den Rand ihrer Erschöpfung um Kontinuität, finanzielles Überleben und trotz hoher Fluktuation um den Zusammenhalt des Vereins gekämpft hatten, sahen ihre Ideale wanken und ihr Werk kurz vor der Zerstörung.
Sich seit 1966/67 hinziehende interne Auseinandersetzungen führten letztlich zur Übergabe der Vereinsangelegenheiten seitens der – zum Teil schon in Berufen befindlichen – älteren an die jüngere Generation, sowie 1969 zu einer überarbeiteten Satzung und neuen Vereinsstrukturen. Die Veränderungen spiegeln sich wider in dem von der Mitgliederversammlung in Auftrag gegebenen und vom ehemaligen MV- und Vorstandsmitglied Sven Hölzel unter Mitarbeit weiterer Mitstreiter erstellten, 1971 veröffentlichten Buch “Freizeitpädagogik zwischen Gleichgültigkeit und Zwang”.
Der fortlaufende Prozess an Diskursentwicklungen zeigt sich in der Tatsache, dass in dieser Arbeit von 1971 die pädagogischen Akzente und Schwerpunkte der frühen Aufenthalte (Spiel, Spaß, Abenteuer und Erholung) als reaktionär bezeichnet (Hölzel, S. 1) und das Buch selbst wenige Jahre später innerhalb des SfEs mit dem gleichen Attribut belegt und nicht mehr empfohlen wurde, allerdings ohne einen vergleichbaren konsistenten Gegenentwurf zu entwickeln.
