Die Liederbuch-Konflikte

Es gab immer wieder Konflikte (von einigen auch „Skandale“ genannt) im Zusammenhang mit dem LIEDERBUCH oder der LIEDERKISTE. In der Dissertation „Musikzensur“1 von Dr. Bernhard Bremberger werden dazu zwölf Vorfälle dokumentiert. Eine Auswahl daraus:

Berlin 1973 2

Anlass war eine Beschwerde auf der Auswertetagung der Bezirksämter mit dem Verein „Student für Europa“ im September 1973. Vom CDU-geführten Bezirksamt Steglitz wurden Lieder wie „Avanti popolo“, „Bagger­führer Willibald“, „Moritat auf Biermann seine Oma Meume“, „Für Mikis Theodorakis“ und „P.T. aus Arizona“ wegen „tendenziöser Sprache“ und „vulgären Inhalten“ im LIEDERBUCH kritisiert. Die Vertreter anderer Bezirksämter schlossen sich dieser Kritik nicht an und „protestierten energisch gegen diesen Versuch, das Liederbuch zu zensieren.“3

Daraufhin stellte die CDU-Fraktion für die Sitzung des Berliner Abgeordnetenhauses vom 8. November 1973 folgenden Antrag:

Der Senat wird aufgefordert, dafür zu sorgen, daß bei den vom Land Berlin geförderten Aufenthalten des Vereins Student für Europa – Student für Berlin e.V.“ das Liederbuch dieses Vereins nicht verwendet wird.“

Der Abgeordnete Wischner (CDU) zitierte aus Texten von Degenhardt und Biermann und be­haup­te­te, diese „sollen“ Berliner Kinder beim SfE singen. In seiner Antwort wies der Abgeord­nete Prozell (SPD) darauf hin, dass in anderen Organisationen, die Jugendliche betreuen, noch ganz andere Lieder gesungen würden. Er finde die Kritik am LIEDERBUCH nicht so schwerwie­gend, dass es überarbeitet werden müsse. Darauf stellte der Abgeordnete Hannemann (SPD) eine wohl iro­nisch gemeinte Zwischenfrage. Das Protokoll notierte:

Hannemann (SPD): Herr Prozell, sind Sie mit mir der Meinung, daß man nach den Proben, die man hier gehört hat, diese Bücher eigentlich verbrennen sollte?
(Beifall bei der CDU . Zurufe: Sehr gut!)
Prozell (SPD): Dieser Ansicht bin ich ganz und gar nicht, Herr Kollege, weil damit das Problem nicht gelöst wird …“

Der Antrag der CDU wurde von der Mehrheit der Abgeordneten abgelehnt.

Sandkrug (Niedersachsen) 19774

Vermittelt von ihrer Englischlehrerin hatten sich 1977 zehn Schü­ler der Orientierungss­tufe auf eige­ne Kosten das LIEDERBUCH angeschafft, denn im Unterricht wurde „Oh Susanna“, „Blowin’ In The Wind“ u.ä. ge­sungen. Ein Vater bekam das Buch zu se­hen, fand den Inhalt „skandalös“ und be­schwerte sich daraufhin bei der CDU.

Der CDU-Landtagsabgeordnete Dierkes stellte, ohne bei der Schule rückzu­fragen, eine Kleine An­frage im niedersächsischen Landtag. Das LIEDER­BUCH enthalte „rei­ne Klassenkampf­lieder“ (u.a. „Baggerführer Willibald“, „Wer macht, daß Züge fah­ren“) und befürworte eine „familiäre Konfliktstra­tegie“ („Grips-Lied“, „Komm, wir fressen mei­ne Oma“). Der CDU-Kultus­minister Rem­mers ant­wortete dar­auf:

Nach Auskunft der oberen Schulbehörde ist eine Empfehlung zur Anschaf­fung die­ses Liederbu­ches durch die Schüler weder von der Lehrerin noch vom Stufenleiter noch vom Schulleiter ausge­sprochen wor­den. Das Buch wurde allerdings von der Lehrer­in in der Weise genutzt, daß sie dem Buch die Texte einiger Shantys entnahm. Nachdem die Lehrerin auf Befragen den Schülern Titel und Bezugsquelle des Bu­ches genannt hatte, schafften es sich eini­ge Schüler aus freien Stücken an. Die in der Anfrage ge­nannten neun Lieder sind von der Lehrerin im Un­terricht nicht behan­delt worden.“

Weiter führte er aus, dass es durch Erlass geklärt sei, welche Bücher im Unterricht verwendet wer­den dürften. Wer dagegen verstieße, verletze sei­ne Amtspflichten.

Rotenburg (Hessen) 19795

Eine Fotokopie des Liedes „Baggerführer Willibald“ aus dem LIE­DERBUCH für den Schulchor nahm ein Vater (Inhaber einer Baufirma) als Anlass, sich bei der Hand­werkskammer Kassel zu be­schweren. Das sei „reine kommu­nistische Hetze … gegen un­sere freie Wirtschaftsordnung.“6 Auch die Handwerksk­ammer schloss sich diesem Protest an, Schule und Kultus­behörde stan­den aber hinter dem Lehrer.

Der CDU-Bundestagsabgeordnete Böhm (er wurde dadurch be­kannt, dass er seit 1976 immer wie­der versuchte, alle drei Stro­phen des Deutschlandlie­des populär zu machen) griff den Fall auf und behaup­tete, das LIEDER­BUCH hätten die Schüler „von ihrem Lehrer in die Hand gedrückt be­kommen.“ In diesem Buch seien „alle Kom­munistenschnulzen dieser Erde“ ent­halten. Er schickte seine Stellungnahme an die Presse. Mindestens acht Presseorgane ver­öffentlichten seine Ansichten, teilweise mit reißeris­chen Überschriften.

Antrag der CDU-Fraktion im hessischen Landtag:

Die Landesregierung wird ersucht, durch entspre­chende Rege­lungen sicherzustell­en, daß das im Verlag „Student für Europa“ erschienene „Lieder­buch“ nicht im Unter­richt an hessischen Schulen verwendet wird.“

Das Wortprotokoll dazu umfasst bei sieben Rede­beiträgen allein 14 Seiten, auch der Kultusminis­ter ergriff das Wort. Der Antrag wurde in den kulturpoli­tischen Ausschuss überweisen, der ihn dann später ablehnte.

Sittensen (Niedersachsen) 19807

Ein Vater, der gleichzeitig CDU-Abgeordne­ter im niedersächsi­schen Land­tag war, ver­langte, dass das LIEDERBUCH, das auf Elternkosten an der Schule angeschafft wor­den war, wieder ein­gezogen werde. Er beanstandete u.a. die Lieder „Berlin ist eine schöne Stadt“ wegen der Zeilen: „Berlin ist eine schöne Stadt, die auch einen Flei­scher hat. Der Fleischer schlägt die Olle tot und frißt sie dann zum Abendbrot.“ sowie „Moritat auf Biermann sei­ne Oma Meume“ wegen der Zeilen: „Dann ging er mit dem letzten Geld in Meyer’s Freudenhaus.“ Der Schullei­ter ließ dar­aufhin die Bücher einzie­hen, weil bei der Anschaffung ein formaljur­istischer Fehler begangen sei.

Dem Vater genügte das nicht. Er stellte im niedersächsischen Landtag eine Kleine Anfrage, wie man künftig verhindern könne, dass das Buch an Schulen benutzt werde. Das führte zu mehre­ren Artikeln und Glossen in regionalen und überregiona­len Zeitungen8.

Rechtzeitig zum Karneval stellte ein SPD-Abgeordneter eine Kleine An­frage im Landtag, ob man jetzt auch Goethes „Faust“ wegen dieser Textzeilen verbieten müsse: „Der nach dem Schauspiel wünscht ein Kartenspiel / Der eine wilde Nacht am Busen einer Dirne.“

Berlin 19829

In einer 6. Klasse wurde das Lied „Frauen gemein­sam sind stark“ aus der LIEDER­KISTE im Unterr­icht besprochen und ge­sungen. Ein Mädchen einer 5. Klasse woll­te das Lied auch ha­ben und lieh sich das Buch von der Lehre­rin aus. Ihr Vater infor­mierte die Presse, die beim Schulrat nach­fragte. Jetzt griff die BILD-Zeitung das The­ma in be­kannter Manier auf. Die Lehrerin er­hielt eine schriftliche Missbilligung in ihre Personal­akte, weil das Lied aus ei­nem Lie­derbuch stamme, das keine Zulassung für Berliner Schulen habe.10

Fazit

Alle in der Dissertation „Musikzensur“ do­kumentierten Konflikte11 liefen nach ähnli­chem Muster ab: El­tern wollten ihre und andere Kinder vor ver­meintlich schädlichen Einflüssen schützen, indem man sie von unliebsamen Liedern fernhält. Deshalb dürf­ten sie keinen Zugang zu be­stimm­ten Liederb­üchern mehr bekommen. Ulklieder oder Nonsens-Verse be­kamen eine Wich­tigkeit und wur­den als menschenveracht­end oder
gewalt­ver­herr­lichend an­gesehen, bestimmte politische Äuße­rungen galten als ein An­griff auf die Gesellschaft. Oft wur­de anschlie­ßend von interessierter politi­scher Seite versucht, das Ganze zu einem Skandal hochzu­spielen, um den politischen Gegner vorzuführen oder für den eigen­en Standpunkt zu werben.

Ein Kulturkampf kann auch in die falsche Richtung losgehen. Dass da­durch die Texte, die man aus der Welt schaffen woll­te, nur noch be­kannter wurden, kann man als Ironie der Geschichte ansehen.

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Anmerkungen:

1   Bremberger, Bernhard: Musikzensur – Eine Annäherung an die Grenzen des Erlaubten in der Musik. Die Auseinandersetzung um die „Student-für-Europa“-Liederbücher. Berlin: Schmengler 1990 – zugl.: Bamberg, Univ. Diss., 1988. ISBN 3-9801643-2-2

2   Bremberger 1990, S. 64 – 71

3   Bremberger 1990, S. 65

4   Bremberger 1990, S. 94 – 98

5   Bremberger 1990, S. 109 – 135

6   Bremberger 1990, S. 334

7   Bremberger 1990, S. 159 – 166

8   Bremberger 1990, S. 429 – 434

9   Bremberger 1990, S. 168 – 174

10   Bremberger 1990, S. 443

11   Bremberger 1990, S. 63 – 180 und besonders S. 246 – 249

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