Neue Zielsetzung im SfE
Ein wesentlicher Bestandteil der neuen Vereinsstruktur ab 1969 war die Dezentralisierung der Betreuerausbildung durch Übertragung auf die Arbeitsgemeinschaften, denen zugleich mehr Mitbestimmungsrechte und Mitverantwortung sowie Eigenständigkeit in der Auswahl pädagogischer Schwerpunktthemen zufielen. Der parallel im § 2, (2) der aktualisierten Satzung formulierte Anspruch
„Der Verein fördert und unternimmt innerhalb und außerhalb der eigenen Reihen Aktivitäten, die sich mit den bildungs- und gesellschaftspolitischen Verhältnissen beschäftigen, die der Erziehung der Kinder und Jugendlichen dienen sollen.“
hat das Betätigungsfeld der AG’s enorm erweitert und aufgefächert, allerdings auch unerwartete Folgen nach sich gezogen und neue Rechtsfragen aufgeworfen.

Radikale Veränderungen an den Hochschulen
Die Studentenbewegung Ende der 60er Jahre hatte den Diskurs an den Universitäten und die studentische Kultur nachhaltig verändert. Eine Fülle an systemkritischer Literatur setzte sich mit den bestehenden Herrschaftsverhältnissen auseinander und rückte immer stärker die Ordinarienuniversität selbst in den Mittelpunkt lautstarker Proteste, die bis in die Strukturen der jeweiligen Disziplinen und ihrer Lehrveranstaltungen und sogar die Forschung hineinreichte. Themen wie Kritik der bürgerlichen Wissenschaften, Aufarbeitung der NS-Zeit, Kampf gegen autoritäre Strukturen und Auflösung jeglicher Unterdrückung standen auf der Tagesordnung. Die Ansprüche an das eigene Leben und das der anderen transformierten sich, das Private wurde politisch: Es entstanden die ersten Kinderläden; Wohngemeinschaften und ein anderer Umgang mit Sexualität führten zu radikalen Änderungen im Privatleben vieler Studierender.
Exemplarisch sei der Soziologe Oskar Negt zitiert, der diese Entwicklung als Professor in Hannover erlebt und selbst auch mitgestaltet hat. Im Kapitel „Macht, Politik, Protest und Moral – Der Versuch einer politischen Universität“ schreibt er:
„Nicht der Sturm auf die Bastille oder die Beschießung des Winterpalais durch den Panzerkreuzer Aurora – Ereignisse, die einen hohen Bekanntheitsgrad haben – sind das Problem. Es ist viel komplizierter, worauf sich die Studenten einlassen wollen: Wie ist, in Konsequenz antiautoritärer Radikalität, die Burgfestung der Väter, die man andererseits doch fortwährend für sich zitiert, im Handstreich zu besetzen, so daß dieser symbolische Akt auch in der Öffentlichkeit deutlich erkennbar wird?
Wenn auf Flugblättern den »Vätern« der Kritischen Theorie ihre alten Formulierungen, insbesondere die Horkheimers, vorgesetzt werden, dann auch immer in dem Gefühl, den Wahrheitsgehalt diese Formulierungen besser zu verstehen, als deren Urheber es damals vermochten, ihn vor allem existentiell der eigenen Lebenspraxis zu integrieren.“ (Oskar Negt, Achtundsechzig – Politische Intellektuelle und die Macht, Göttingen 1995).
Auswirkungen auf den SfE
Vor diesem Hintergrund ist es nicht weiter verwunderlich, dass diese Ansprüche sich auch in den AG’s niederschlugen, oft gepaart mit intellektueller Überheblichkeit, das einzig richtige Konzept für die Ferienlager und die darin zu verwirklichenden Erziehungsziele entwickelt zu haben. Da sie an den verschiedenen Hochschulstandorten mit jeweils eigenem Unfehlbarkeitsanspruch entwickelt wurden, waren sie auch untereinander nicht kompatibel und bei den Auswertetagungen auf Vereinsebene heftig umstritten.
Diese Veränderungen der internen Auseinandersetzungen in den AG’s hatten auch Auswirkungen auf die Herkunft der Betreuer. Bisher kamen die meisten Mitarbeiter in den AG‘s aus fast allen Fakultäten – Juristen, Mediziner, Pädagogen, angehende Ingenieure, Psychologen, Soziologen, Kaufleute und Journalisten, nur ‚reine‘ Naturwissenschaftler fehlten auffallend. Sie konnten sich alle unter dem Motto „Große Ferien für kleine Berliner“ versammeln. Der karitative Gedanke „etwas Gutes zu tun“ und in den Semesterferien mit gleichgesinnten Kommilitonen drei Wochen verantwortungsvoll in einem Ferienlager zu arbeiten, bestimmte oft ihre Motivation. Zunehmend verlagerte sich nun diese breite Repräsentanz der Studienfächer auf Studierende der Erziehungswissenschaften und Sozialpädagogik.
Für sie bedeutete die Möglichkeit, im SfE ihr Sozialpraktikum zu absolvieren, einen wichtigen Anreiz. Beim Absolvieren dieses Pflichtscheins sollten die Studenten, die meist aus akademisch geprägten Elternhäusern kamen, die Lebenswirklichkeit der breiten Schichten kennenlernen. Klassische Praktikumsfelder waren Kindergärten und andere soziale Einrichtungen. Ein einfaches „Kennenlernen der Lebenswirklichkeiten“ war aber Studenten, die sich selbst als „fortschrittlich gesinnt“ einschätzten, zu wenig. Sie wollten die Gesellschaft verändern, statt sich in die Hierarchie einer bestehenden Institution einzufügen. Hier kam das Angebot des SfE genau richtig.
Aufgrund der zunehmenden Vernetzung des SfE an den Hochschulen wurde fast überall die Betreuung in einem dreiwöchentlichen Ferienaufenthalt als Sozialpraktikum anerkannt. Viele der AGs stellten die selbstorganisierte Arbeit in den Mittelpunkt, einige warben sogar offensiv mit politischem Handeln. Dazu ein Ausschnitt eines Infoblatts der AG Hamburg:
so soll es bei uns aussehen, das werden wir machen:
die dialektik zwischen theoretischer und praktischer arbeit ist die grundlage für gesellschaftskritische und strukturumwälzende arbeit, für antikapitalistische jugendarbeit, für wirksames, veränderndes politisches handeln.
also werden wir folgendermaßen vorgehen:
1. erarbeitung der gesellschaftlichen strukturbedingungen der brd (analyse), d.h. konkret literaturarbeit zu
politische ökonomie
sozialisationsforschung
(mit dem ziel eigener einstellungs- und verhaltensänderung)
2. auf der erarbeiteten basis
herstellung der wechselbeziehung zwischen theorie und praxis ...
….
daher die planung der konkreten arbeit unserer ags:
1. beginn der oben genannten literaturarbeit
2. durchführung und fortführung der begonnen langfristigen arbeit mit hamburger jugendlichen
3. vorbereitung und durchführung von ferienaufenthalten im sommer `72, d.h. betreuerteambildung und methodische vorbereitung für drei wochen
das ist der zentrale punkt unserer aktivitäten. der organisatorische (finanzielle !) rahmen ist für 3.000 kinder gesichert.
anerkennung als sozialpraktikum möglich; dm 130 dazu. aufenthalt in jugendhäusern; betreuerteams mit ca. 40 kindern.
Auch in anderen AGs des SfE gab es Tendenzen, die Entwicklung eines kritischen Bewusstseins für die eigene Lage als Arbeiterkind in den Mittelpunkt des Aufenthaltes zu stellen. In einem Artikel der Berliner Morgenpost vom 26.9.1973 heißt es dazu:

Ferien mit Klassenkampf
Jugendstadtrat Steglitz, CDU: "Auf Seite 3 beginnt der Klassenkampf...", "Der studentische Verein wird mit öffentlichen Mitteln und damit mit dem Geld der Steuerzahler finanziert."
In dieser Zeit veränderte sich die Arbeitsweise im SfE nachhaltig:
- Viele Betreuerteams bereiteten sich mit hohen theoretischen Ansprüchen auf die Aufenthalte vor, hatten oft aber keine oder nur wenig praktische Erfahrung in der Arbeit mit Kindern
- Neue Schwerpunkte der Aufenthaltsziele: Sexualpädagogik, Entwicklung eines Bewusstseins für die eigene soziale Stellung in der Gesellschaft
- Der frühere Schwerpunkt Erholung und Erlebnis steht nicht mehr im Vordergrund.
- Die Mitgliederversammlungen des SfEs werden ebenfalls stark politisiert. Politisch-pädagogische Projekte, die sich in drei Wochen realisieren lassen, werden intensiver diskutiert.
- Das „Projekt Europa“ wird – wenig fortschrittlich – eingestellt.
Ähnlich kritisch wie die Studentenbewegung insgesamt wurden in der Presse in zunehmendem Maße auch die Ferienlager und das zugrundeliegende pädagogische Konzept des SfE betrachtet. Insbesondere das Thema Sexualpädagogik war und blieb ein Reizthema in der bürgerlichen Presse. Schon 1969 gab es im Aufenthalt Oberwarmensteinach einen „Sexskandal“.

Im Sommer 1979 erschütterte die Berliner Presse: „Betreuer verteilen hektografierte Pornografie an Neun- bis Elfjährige!“ Betreuer/innen war extrem oft aufgefallen, wie Jungen und Mädchen sich gegenseitig mit sexuellen Reizwörtern beschimpften und hatten Kinder aufgefordert, einmal aufzuschreiben, was sich hinter diesen Begriffen eigentlich verbirgt, um dann in der Gruppe darüber sprechen zu können. Gute Absicht, aber nicht zu Ende gedacht: Die Texte gelangten ohne weitere Erklärung in die Lagerzeitung, eine Mutter reichte diese weiter an einen befreundeten BZ-Redakteur – und das Sommerloch hatte ein heißes Thema. Weitere Zeitungsausschnitte hier, hier und hier.
Die Stimmung war so aufgeheizt, dass ein Herbergsvater in Bremen sich bei der Presse beschwerte, weil die SfE-Gruppe in seinem Heim die „Rote Fahne“ auf dem Schornstein gehisst hätte. Tatsächlich handelte sich um eine Freibeuterfahne beim Piratenspiel.
Doch es gab auch andere Entwicklungen:
- Jugendfreizeiten. Die Zahl Berliner Jugendlicher im Alter von 14 bis 16 Jahren erhöhte sich deutlich, Betreuerteams stellten sich daher mehr auf diese Altersgruppe ein und entwickelten neue Freizeitthemen. Der Verein erhielt Anfang der 80er auch zusätzliche Mittel aus Berlin zur Anschaffung von Booten, Fahrrädern und weiterem Material für anspruchsvolle Freizeitgestaltung.
- Mädchenarbeit. Von der Sozialbehörde veranlasste Untersuchungen in Berliner Jugendheimen zum Verhalten und zu Problemen von halbwüchsigen Mädchen führten zu Ergebnissen, derer sich Jugendarbeiter und Sozialpädagogen anzunehmen hatten. Eine Gruppe von Lüneburger Pädagogik- und Sozialpädagogikstudentinnen hatte sich mit diesem Thema schon im Studium auseinandergesetzt und plante nach ausführlicher Begründung und Zustimmung in der SfE-Mitgliederversammlung, entgegen dem Prinzip der Koedukation, einen Aufenthalt nur für Mädchen durchzuführen (14-16 Jahre, 1980, Ah Thomasburg).
- Kinderladen Berlin Kreuzberg: Mitglieder der AG Berlin entwickelten ein Konzept zur Langzeitpädagogik mit Berliner Kindern und mieteten auf Vereinskosten einen großen ehemaligen Laden in der Kreuzbergstraße an, statteten diesen entsprechend aus und betreuten wechselweise eine Kindergruppe aus der Nachbarschaft, zusammen mit weiteren Kommilitonen der FU. Mit dem Niedergang der Vereinskapazitäten musste auch dieses Projekt beendet werden.