Der große Erfolg des LIEDERBUCH


Im Verein wurde ab 1974 ange­regt, das Lie­derbuch grundsätz­lich zu überar­beit­en und dem Zeit­geist anzupass­en. Eine Ar­beitsgruppe unter Leitung von Martin Ke­tels, von 1973 bis 1977 im SfE tätig, machte dazu ei­nen Vor­schlag. Da­bei wurden wenig ge­sun­gene oder schwierig zu sin­gende Lie­der her­ausge­nommen, auf Fahrtenliederrom­antik weitge­hend verzich­tet oder gewalt­verherrlichende Lie­der wie z.B. der „Blanken­steinhusar“1 ent­fernt. Insgesamt wurden 30 Ti­tel gestri­chen, der frei gewordene Platz konnte neu gefüllt wer­den. Im Fo­kus standen Lie­der, die man gut in Gruppen singen kann, die bei jun­gen Leu­ten be­kannt waren oder die emanzipator­ische Inhalte hat­ten. Da­bei waren auch neue Kin­derlieder, die Selbstbe­wusstsein und Kritikfähig­keit för­dern soll­ten. Kleine Kom­men­tare ga­ben weiter­führende Informatio­nen. Im Vor­wort hieß es dazu:

Gemeinsam Lieder sin­gen heißt nicht nur, die Gi­tarre her­vorzuholen und loszusingen, son­dern viel­leicht auch mal über das nach­zudenken, was man gemeinsam singt, und auch auf Lie­der zurückzu­greif­en, die im Zusam­menhang mit unseren Erfah­rungen und Er­lebnissen ste­hen. Trotzdem soll Singen nicht zu einer todernsten Sa­che werden.“2

Das so überarbeitete Lieder­buch er­schien in vierter Auf­lage im Spät­sommer 1975 mit ei­nem Titel­bild, das das „Michelele“, das Logo des Vereins, betonte und ihm den Namen LIEDERBUCH gab. Es enthielt 134 Lieder auf 92 Seiten, 26 Lieder wa­ren neu hinzu ge­kommen. Darunter waren u. a. be­kannte Lieder der amerika­nischen Folk-Bewegung („Puff, The Magic Dragon“, „We Shall Not Be Moved“, „Tom Doo­ley“), bekannte inter­nation­ale Lieder („Bella ciao“, „Cielito lindo“), zwei GRIPS-Lieder („Das, was der hat, will ich haben“, „Grips-Lied“), zwei Lieder von Wolf Biermann („Ermu­tigung“, „Sol­dat, Soldat“), aber auch das Nonsense-Lied „Komm, wir fressen meine Oma“. Außerdem wur­den einige der verbliebe­nen Lie­der tiefer gesetzt und somit der Sing­stimme eines Erwach­senen an­genähert. Damit wurde das LIEDER­BUCH endgültig von einem Kinder- und Jugendlieder­buch zu einem Lie­derbuch für alle, die gern singen und auf Texte mit emanzipatori­schem In­halt Wert legen. Zusammen mit ei­nem güns­tigen Preis von 6 DM wur­de es zum beliebtes­ten Lieder­buch im Deutschland der späten 70er Jah­re, jährlich wurden davon über 150.000 Hefte verkauft.3

Beispielseite aus dem Liederbuch, 4. Auflage 1975

Während die vierte Auflage 1975 unter enor­mem Zeit­druck ent­stand – man hat­te die al­ten Vorla­gen zer­schnitten und die neuen Lieder ein­fach dazwischen gek­lebt – wurde 1980 mit der achten Aufla­ge das chaotisch wir­kende Layout aus ver­schiedenen Hand­schriften erneue­rt. Alle Lieder und Tex­te be­kamen jetzt ein ein­heitliches Bild, dafür wur­de Platz ge­braucht, au­ßerdem woll­te Mar­tin Ke­tels be­stehende Kommen­tare überarbei­ten und er­gänzen. Des­halb wur­den acht Lieder herausge­nommen: sieben Lieder, die für das Re­pertoire unbedeu­tend er­schienen, und das Non­sense-Lied „Komm, wir fres­sen meine Oma“, wel­ches in den vergang­enen Jah­ren immer wieder An­lass zu Protesten gab. Die bis­herige­ Nummerierung der Lie­der blieb, einige Num­mern fehlten ein­fach. Bis zur elf­ten Aufla­ge 1990 wurde das LIE­DER­BUCH sonst fast unverändert nach­gedruckt.


Weitere Liederbücher des SfE-SfB

Der Erfolg des LIEDER­BUCH über­raschte alle im Verein SfE. Plötzlich kam viel Geld herein. Das mach­te unabhängiger, aber auch selbstbe­wusster gegenüber den Berliner Ent­sendestellen und Geldgebern. Jetzt war vieles möglich, was vorher undenkb­ar war. Doch für an­gedachte neue Pro­jekte konnte man noch mehr Geld gebrauchen. Warum nicht ein zweites Liederbuch auf­legen?

Auch Martin Ketels stand dieser Idee offen gegenüber, konnte er doch „nur“ 26 neue Lie­der bei der Überar­beitung für die vierte Aufla­ge unterbringen. So machte er sich im Herbst 1976 von Hamburg aus an die Planung für ein neues Buch.

Da das neue Liederbuch pri­mär für den Verkauf konzi­piert wur­de, gab es an­dere Kriterien für die Lie­derauswahl. In einem ver­einsinternen Memo legte Martin Ketels diese dar:

Die Lieder sol­len … wenigs­tens halbwegs be­kannt sein, weil es nichts nützt, auch die besten Lieder zu haben, die doch keiner singt, weil die Umset­zung von No­ten und (ausl.) Text in Musik schwer fällt. …[Sie sol­len] beim Durch­blättern des Buches den Ef­fekt auslösen „Ach ja, das Lied wollte ich im­mer schon mal haben, und hier finde ich end­lich mal den vollständi­gen Text mit Noten und Griffen dazu.“ … Politi­sche Lie­der … dienen der Auf­klärung … [und] stehen in einem konkre­ten Bezug zu einem Er­eignis. … Popsongs … müssen singbar sein, d,h, nicht zu kompliziert von der Melo­die. … Kin­derlieder … nicht zu al­bern, nicht unter Niveau der Kinder, son­dern sie in ihren Problemen ernst nehmen … Deut­sche Volks­lieder … [sollen sein] schöne Lie­der vom Le­ben, Lieben, Leiden und von der Lust …Internation­ale Folk­lore … [soll sein Aus­druck der] inter­nationalen Solidari­tät.“4

Das neue Buch wurde LIEDERKIST­E genannt5 und er­schien im Frühjahr 1977. Auf 96 Seiten ent­hielt es 88 Lieder. Es wur­de in den fol­genden Auflagen kaum ver­ändert. Bis 1981 konnten über 500.000 Exemplare verkauft werden. Dreimal war es Anlass zu einem „Skan­dal“ – ein Beispiel aus dem Jahr 1982 hier.

Auch der LIEDERKAR­REN, der im Herbst 1979 folge, behielt das er­folgversprechende Konzept der Vor­läufer bei. Zum ersten Mal dabei wa­ren „zwei vier­stimmige Sätze für diejenig­en von Euch, die gerne mit einer Gruppe mehrstimmig singen wollen.“6 Der LIE­DERCIRCUS aus dem Herbst 1981 war dann das letzte Buch dieser Reihe, das im Verlag Student für Europa erschien.


Verbreitung und Einfluss der Lie­derbuchreihe

Das LIEDERBUCH und da­mit die gan­ze Liederbuchr­eihe ver­breiteten sich sehr schnell. Fast aus dem Nichts ent­stand eine Lawine an Be­stellungen. Das ging ganz einfach mit Hilfe eines Be­stellzettels auf der vorletzten Seite des Heftes. Wäh­rend 1974 ca. 10.000 Exemplare verkauft wur­den, waren es im Jahr 1980 be­reits knapp 400.000 Stück. Es gab wohl kaum eine Wohnge­meinschaft, in der diese Lieder­bücher nicht vor­handen wa­ren. Auch der günsti­ge Preis spiel­te eine wichti­ge Rol­le.

Entscheidend für den Erfolg war die Konzeption. Gab es bis da­hin nur Lie­derbücher für ein­zelne Sparten von Lie­dern, konnte die Liederbuch­r­eihe die ganze Bandbreit­e von Pop über Fahr­ten- bis zu Volksliedern, von Kinderlie­dern über Spiritu­als bis zu Liedern mit klar politi­schem Anspruch abdec­ken. Außerdem traf diese Mi­schung den Zeit­geist der 70er Jahre und machte viele Lieder zugängl­ich, die be­kannt und beliebt waren. Das LIE­DERBUCH wurde zum Trend­setter, viele an­dere Lie­der­bücher zo­gen nach, auch im Schulbuchbere­ich.7

Das LIEDERBUCH gehört mit der Mundorgel und dem Zupf­geigenhansl zu den drei erfolgreichst­en Lie­derbüchern im deutschspra­chigen Raum:

Die Mundorgel hatte eine ähnliche Entstehungsge­schichte wie das LIE­DERBUCH. 1953 stell­ten vier Jugendgrup­penleiter des Christli­chen Vereins Jun­ger Männer (CVJM) eine Textsamml­ung für Lie­der in der Jungschar- und Pfadfin­derarbeit zusamm­en. Das Re­pertoire bestand aus Fahr­tenliedern mit Lagerfeuerrom­antik und Liedern für klei­ne Andach­ten, garniert mit ein paar Spi­rituals. Erst in den 80er Jah­ren kamen nach dem Er­folg des LIE­DERBUCH auch ei­nige englisch­sprachige Pop- und Protest­lieder hinzu8. Die Ge­samtauflage hat bis­her 14 Millio­nen Stück er­reicht (11 Millio­nen nur Textausga­be, 3 Millio­nen mit No­ten).

Der Zupfgeigenhansl ent­stand 1908 und war als Fahrtenliederb­uch der Wan­dervogelbewegung (20er Jahre des letzten Jahrhun­derts) be­kannt ge­worden. Nach 1945 hatte er kaum noch Bedeu­tung, seine Auf­lage wird auf gut 1 Millio­nen Exemplare ge­schätzt.

Für das LIEDERBUCH wurde nie auf­wändig Wer­bung ge­macht, „Mundpro­paganda“ reichte weitge­hend aus. Au­ßerdem ver­schafften Zei­tungsberichte über soge­nannte “Skan­dale“ der Bü­cherreihe wei­tere Pu­blizität und erwie­sen sich im End­effekt als erfolgreiche Wer­bung.10


Fortführung in der „kun­ter-bund-edition“


Nach dem großen Erfolg der Lieder­buchreihe für den SfE mo­nierte das Fi­nanzamt, dass inner­halb ei­nes ge­meinnützigen Ver­eins ein „wirt­schaftlicher Nebenbe­trieb“ exis­tiere, der viel grö­ßer sei als der Verein selbst. So wurden 1978 die Produk­tion­ und der Vertrieb der Lie­der­bücher in eine „Ver­lag Stu­dent für Europa – Student für Berlin GmbH“ ausgelag­ert.11 In diesem Verlag er­schienen dann 1979 auch der LIEDER­KARREN und 1981 der LIEDER­CIRCUS. Doch konnte der Verlag nicht pro­fessionell gemanagt werden, und im Verein wurden die Risiken neuer päd­agogischer Pro­jekt­e nicht sorgfältig ge­nug kal­ku­liert in Erwartung wei­ter spru­delnder Gewin­ne aus dem Verlag. So scheiter­te der Verein schließlich an seinem eigenen Erfolg.12

1982 wurde der Verlag an den Bund-Verlag Köln ver­kauft, ein Verlag, der einen Schwer­punkt auf gewerk­schaftliches Schu­lungsmaterial für Betriebsräte legte. Der Verlag legte mit den Liederbü­chern die „kunter-bund-edition“ auf, in der in den kom­menden Jahren ins­gesamt 15 Hefte dieser Rei­he erschienen. Dazu kamen Liedersammlungen für Schu­len, einfache Instru­mentenschulen für Gitarre, Blockflöte, Klavier oder ähnliches.


Die zwölfte Auflage des LIEDER­BUCH

Mit der zwölften Auflage 1996 ver­änderte eine Lekto­rin, die in­zwischen im Bund-Verlag die Be­treuung der Liederbuchreihe über­nommen hatte, die Konzep­tion und die Ge­staltung des LIE­DERBUCH. Waren bis­her alle Noten einheitlich hand­schriftlich geschrieben, so wurden sie jetzt maschin­ell gesetzt. Die Noten­lin­ien wurden dabei enger, das ver­ringerte die Lesbarkeit. Außer­d­em kürzte man den Um­fang von bisher 126 auf 99, eine ganze An­zahl von Lie­dern fehlten nun, die für die genau ausba­lancierte Gesamtkonz­eption wichtig wa­ren13. Auch wur­den die Bil­der bzw. Zeich­nungen der Gitarrengriffe gestrichen, die Zu­satzinformationen zu den einzel­nen Liedern stark ver­ändert, meis­tens sogar verschwanden sie ganz. Die Vor­worte, in denen Bezug ge­nommen wurde auf die vielfältige Be­deutung von Liedern für soziale Gruppen, fielen der Schere zum Op­fer. Da­mit wurde dem LIEDER­BUCH endgültig die Verbin­dung zu seiner Entstehung im Verein „Stu­dent für Euro­pa – Stu­dent für Berlin“ gekappt, übrig blieb ein Liederbuch, wie es mittler­weile viele an­dere gab.

Im Jahr 2002 beschloss der Bund-Verlag, sich auf sein Kernge­schäft (Material zur Gewerkschaftsa­rbeit) zu konzentrieren und verkaufte die „kunter-bund-edition“ an den Schott Ver­lag, Mainz.

In den folgenden Jahren und beson­ders im zweiten Jahr­zehnt des 21. Jahrhunderts ging der Absatz an Lie­derbüchern überall zu­rück14, die elektronischen Medien übernahmen den Markt. Die belieb­testen Hefte der Lie­derbuchreihe erreichten nicht einmal mehr 1 % der Verkaufszah­len aus den spä­ten 70er Jahren. Im Jahr 2022 war das LIEDER­BUCH end­gültig vergriffen und wur­de nicht mehr neu aufgelegt. Nach 50 Jahren und über 1,4 Mill. verkauf­ten Exem­plaren war nun Schluss.

Fortsetzung im Kapitel “Die Liederbuch-Konflikte

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Anmerkungen:

1   Im der dritten Strophe heißt es:
„Ein Sarrass aus dem Türkenkrieg, der mir vom Urgroßvater blieb, geschliffen in Magyar.
Gar mancher mußt‘ ihn spüren schon, gar mancher lief vor ihm davon, vor’m Blankensteinhusar.“ [Sarrass: ein Säbel der Husaren]

2   Seit der 12., neu überarbeiteten Auflage von 1996 fehlt dieses Vorwort.

3   Bremberger, Bernhard: Die Liederbücher des Student für Europa e.V.
Zur Genese und Geschichte einer Liederbuchfamilie – Magisterarbeit Berlin 1984, S. 146

4   Bremberger 1984, S. 376 f

5   Im Vereinsjargon des SfE waren „Kisten“ Baustellen, bei denen man noch etwas zu bearbeiten hatte.

6   Aus dem Vorwort des LIEDERKARREN

7   Bremberger 1984, S. 278 f

8   Hier haben zweifellos die SfE-Liederbücher die Mundorgelmacher inspiriert. Alle neuen Lieder entstammen daher, und z.B. der Kommentar zu „Sound Of Silence“ wurde verkürzt aus der LIEDERKISTE übernommen. Siehe Bremberger 1984, S. 280.

10   Bremberger, Bernhard: Musikzensur – Eine Annäherung an die Grenzen des Erlaubten in der Musik. Die Auseinandersetzung um die „Student-für-Europa“-Liederbücher. Berlin: Schmengler 1990 – zugl.: Bamberg, Univ. Diss., 1988. ISBN 3-9801643-2-2, z.B. S. 66, S. 204 und S. 210

11Lauff, Werner: Eine Bewegung und ihre Erstarrung. Erinnerungen an „Student für Berlin“. S. 21-32 und 71-80 in: Deutsche Jugend 1/1984 und 2/1984 , S. 76

12Lauff 1984, S. 77 – 80

13   Dass dabei auch das Lied „Michelele“ gestrichen wurde, welches Namensgeberin war für das Maskottchen des SfE, das kleine Mädchen mit dem roten Ballon auf dem Titelbild, sei nur am Rande erwähnt.

14   Der „Mundorgel Verlag“ schreibt dazu: „Besaß Anfang der 70er – Jahre noch jedes zweite Kind (im Alter von 10-15 Jahren) eine Mundorgel, war es Anfang der 90er – Jahre nur noch jedes vierte Kind (im Alter von 10-15 Jahren) und ab Mitte der 90er – Jahre nur noch jedes sechste Kind (im Alter von 10-15 Jahren).“

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